„Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.“ Ein sehr verstörendes Wort. Unnütze Knechte, die nur ihre Schuldigkeit tun? Jesus wählt ein hierarchisches Modell seiner Zeit, um den Jüngern etwas zu erklären. Doch: Manches, was früher galt, ist vorbei. So geht das heute nicht mehr! Wir brauchen ein neues Miteinander. Ein Miteinander ohne Oben und Unten, ohne Machtmissbrauch und Willkür. Genau das aber erleben wir. Auch heute noch. Immer und immer wieder. Machtmissbrauch und Willkür. Dann, wenn ein Potentat willkürlich Grenzen verschiebt. Dann wenn ein Regime die Freiheit eines ganzen Volkes unterdrückt und selbst über Leichen geht. Und auch in der Kirche erleben wir es. Immer und immer wieder.

„Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit.“ Was der Prophet Habakuk vor 2.700 Jahren Gott anklagend entgegenschleudert, ist auch heute die Erfahrung so vieler Menschen. Und eine immer noch unbeantwortete Frage: Warum siehst du der Unterdrückung zu? Manche sind fertig mit einem Gott, der nur zuschaut. Der nichts tut. Der die Unterdrücker, die Misshandler, die Vertuscher nicht zum Teufel jagt. „Wie sollte Gott das denn tun“, fragen andere, „wenn er den Menschen doch in die Freiheit entlassen hat?“ Ja, das mag ein Argument sein. Aber wer im Leid versinkt und dann die alten Geschichten hört, Geschichten, in denen Menschen beschreiben, dass sie Gott als den erfahren haben, der ein ganzes Volk aus der Knechtschaft befreit hat, der wird nicht aufhören, Gott genau das immer wieder unter die Nase zu reiben. Und ihn anzuschreien: Zeige dich!

Die Geschichte des Propheten Habakuk geht weiter: „Der Herr gab mir Antwort und sagte: Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann!“ Mit anderen Worten: Mach du dich zum Anwalt der Kleinen und Entrechteten! Uns erwischt diese uralte Aufforderung am Ende einer Woche, in der offenbar wurde, dass ein Priester, der weit über das Bistum hinaus hohes Ansehen genießt, vor vierzig Jahren ein Mädchen missbraucht haben soll. Das Bistum steht in der Kritik, nicht angemessen mit der Situation umgegangen zu sein. Die Betroffene wurde zwar gehört, aber geschehen ist faktisch nichts. „Schreib es deutlich auf Tafeln, damit man es mühelos lesen kann!“ Wir brauchen die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Alles muss ans Tageslicht. Kein Wegducken mehr! Kein Vertuschen! Kein Relativieren! Nicht wenige jedoch fragen: Ist es dafür nicht schon zu spät?

Als die Kirche zu wachsen begann, in den ersten Jahren nach Jesu Tod und Auferstehung also, begannen bereits die ersten Konflikte. Konflikte, die Menschen an den Rand ihrer Kräfte brachten. In dieser Zeit schreibt Paulus an seinen Schüler Timotheus: „Ich rufe dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist! Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Keine Angst: Zum Schluss kommt jetzt nicht die „Alles-wird-gut-Soße“!  Nein, die würde nur alles ersticken. Aber ich merke: Auszuhalten ist all das nur, wenn ich versuche, daran zu glauben, dass noch nicht alles verloren ist. Die Welt – sie steht am Abgrund. Und die Kirche sowieso. Und ich? Ich kann nur versuchen, meinen Beitrag zu leisten, dass der nächste Schritt nicht zum freien Fall wird. Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit – vielleicht hilft er mir dabei.

Aleander Bergel

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Bild: Friedbert Simon
In: Pfarrbriefservice.de