Wir lesen am Palmsonntag neben dem Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem
nicht die Passionsgeschichte, sondern die folgdenen Ereignisse, wie sie in Mt 21,1-17.46 beschrieben sind.
Zerrissener geht es kaum. Jubel hier, Ablehnung dort. Auf der Straße der erwartete Befreier, im Tempel der alles über den Haufen werfende Umstürzler. Jubelnde Massen draußen, auf Abwehr programmierte Priester drinnen. So war es damals in Jerusalem. Und der, um den es sich dreht – Jesus aus Nazareth, der Befreier, der Prophet, der Störenfried, der Zärtliche, der Zerstörer –, er steht da und fordert eine Antwort. Damals. Und heute auch.
Jesus lässt sich nicht abbringen von seinem Weg. Zu den Menschen führt dieser Weg. Ohne Kompromisse. Alles, was sich dem entgegenstellt, räumt er weg. Traditionen, die nicht mehr tragen, die hohl und leer, mitunter sogar falsch oder gar menschenverachtend geworden sind, genauso wie eine geschäftemacherische, gewinnmaximierende, die Sorgen der Menschen vergessende Wirtschaft und Politik. Kein Wunder, dass die Mächte des Marktes und die Mächtigen alle Zeiten sich schwer tun mit ihm.
Man könnte ihn laufen lassen. Reden lassen. Ein bisschen Heilen hier, ein wenig Aufmunterung dort – das stört nicht. Ist vielleicht auch ganz gut für die Schwachen, die Kranken, die, die es halt nicht bringen. Aber wehe, wenn aus diesem Gutmenschentum eine Bewegung wird! Wehe, wenn Menschen so berührt, so gekräftigt, so nachdenklich geworden sind und plötzlich so stark, dass die Worte und Taten Jesu Folgen haben!
Denn dann wird es gefährlich. Nicht nur für die Großen und Mächtigen. Nein, gefährlich wird es auch für mich. Dann nämlich, wenn diese Dynamik mich ergreift, wenn ich der Frage nicht mehr ausweichen kann: Was bist du bereit zu tun? Wir wissen es schon lange, aber Jahr für Jahr erinnert uns diese Woche daran: Jesus zu folgen, das hat Konsequenzen. Weil er selbst so konsequent war. Nicht nur reden, sondern handeln. Nicht nur von Gott sprechen, sondern ihm zur Stimme werden. Nicht nur an der Hülle kratzen, sondern zum Kern vordringen. Um diesen Kern geht es an diesen Tagen.
Wir erinnern uns an das, was war. Um zu verstehen, was ist. Was immer ist: Nähe und Distanz. Zuneigung und Ablehnung. Freundschaft und Verrat. Liebe und Hass. Schmerzen und Zärtlichkeit. Einsamkeit und Begegnung. Fragen und Antworten. Licht und Dunkel. Leben und Tod. Wir erinnern uns an den Weg Jesu. Und betrachten dabei unseren eigenen Weg. Unseren Weg mit all seiner Zerrissenheit. Denn das ist es doch, was uns oft so zu schaffen macht, oder? Dieses Zerrissen-Sein. Zerrissen zwischen Zustimmung und Ablehnung. Zerrissen zwischen Nähe und Abstand. Zerrissen zwischen Mut und Kraftlosigkeit. Zerrissen zwischen Ja und Nein.
Auch Jesus war zerrissen. Auch Jesus war nicht immer stark. Auch Jesus wusste nicht immer auf alles eine Antwort. Am Ende seines Lebens schreit er es heraus: Warum, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Selbst bei ihm, dem Gottessohn, tiefe Zerrissenheit! Doch dabei bleibt es nicht. Er, der nicht nur in die tiefsten Niederungen des Menschseins hinabgestiegen ist, um dort allen zu begegnen, die am Boden liegen, er ist in die tiefsten Abgründe auch seiner Seele hinabgestiegen, am Ende gar in die tiefsten Tiefen des Todes. Doch dort, genau dort, ist er dem Leben begegnet. Dem ursprünglichen, wahren, kraftvollen Leben.
Am Beginn dieser Woche, in der die Zerrissenheit der Welt, in der die Zerrissenheit unserer eigenen Existenz für alle sichtbar wird, irgendwo zwischen Hosianna und Kreuzige ihn, am Beginn dieser Woche und auch an deren Ende und zwischen den Zeilen auch, da leuchtet bereits etwas anderes auf. Ein Gefühl, nein, das wäre zu wenig – eine Kraft, ja eine Kraft, die mich packt und überwältigt und aufrichtet und heilt. Ich werde selbst kraftvoll, traue mich, Dinge zu benennen, breche heraus aus dem eigenen Panzer, sehe das Gute – trotz allem, was dagegen spricht -, freue mich am Leben und trete dafür ein. Ja, selbst der Tod macht mir dann keine Angst mehr. Was für eine Verheißung! Jesus ist diesen Weg gegangen. Warum sollten wir das dann nicht auch schaffen?
Alexander Bergel