Predigtgedanken zum Aufstellen
der Bank »Kein Platz für Antisemitismus!«
Wir müssen uns nichts vormachen. Gäbe es die Kirche nicht, gäbe es keinen Antisemitismus. Es gäbe keine Blutspur, die sich durch die Geschichte zieht. Keine Pogrome. Keine Vertreibung. Keine Auslöschung ganzer Familien. Und in letzter Konsequenz: Keinen Holocaust. Sicher, auch vor dem Auftreten jenes Mannes aus Nazareth, in dessen Namen wir uns versammeln, des Juden Jesus, Sohn der Jüdin Maria, auch schon vor der Zeit Jesu gab es antijüdische Affekte. Vermutlich, weil Israel mit seinem Ein-Gott-Glauben eine massive Provokation im ansonsten polytheistischen Umfeld war. Aber die Grundlage des Antisemitismus, wie wir ihn seit nahezu 2000 Jahren erleben, ist jene Haltung, die sich bis in die frühen 1950er-Jahre in den Großen Fürbitten der Karfreitagsliturgie findet.
Beim Gebet für die Juden hieß es dort jahrhundertelang: »Lasst uns auch beten für die treulosen Juden (auf Latein: ‚pro perfidis Judaeis – für die perfiden Juden‘), dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihrem Herzen, auf dass auch sie erkennen unsern Herrn Jesus Christus.« Damit nicht genug. In der Regieanweisung heißt es: »Hier unterlässt der Diakon die Aufforderung zur Kniebeuge, um nicht das Andenken an die Schmach zu erneuern, mit welcher die Juden durch Kniebeugungen um diese Stunde den Heiland verhöhnten.«
Was wir hier in der Mitte dieser großen Liturgie über die »perfiden Juden« zu hören bekommen, ist Ausdruck einer Geisteshaltung, die wirklich davon ausgeht, dass alle Juden, egal wann sie gelebt haben, nicht nur verblendet und in ihrer Finsternis gefangen sind und bleiben, sondern wahre und wirkliche Gottesmörder sind. Durch die Jahrhunderte hindurch nahmen Pogrome ihren Anfang in Predigten, die genau das zum Inhalt hatten: den perfiden, verschlagenen Juden, der den unschuldigen Gottessohn ans Kreuz brachte. Nicht selten waren es die Karfreitage, an denen Töchter und Söhne Israels um ihr Leben bangen mussten. Marodierende Banden zogen um die Häuser und erschlugen Männer, Frauen und Kinder.
Eine Symbolfigur, auf die sich der antijüdische Hass in besonderer Weise bezog, war und ist bis heute Judas Iskariot. In der Kunst meist dargestellt mit einem Geldbeutel, groben, oft hässlichen Zügen, roten Haaren und der stereotypen Judennase. Doch: Ist er wirklich der geldgierige, verschlagene, hinterhältige Mann, der seinen Meister, der seinen Freund für ein paar Silbermünzen dem Tod ausliefert? Ist er wirklich das verkommene Subjekt, das alles Böse, alles Finstere, ja, die tiefsten Abgründe des Menschen in sich vereint? Viele sehen ihn so. Bis heute.
Manche Schriften des Neuen Testaments haben dieses Bild gezeichnet. Vor allem der Evangelist Johannes. Als sein Evangelium aufgeschrieben wurde, waren allerdings schon fast 70 Jahre vergangen, seit Jesus von den Toten auferstanden war. Eine lange Zeit. Eine Zeit, in der sich viel ereignet hat. Die römischen Besatzer hatten den Tempel, die Mitte des jüdischen Volkes, zerstört, und innerhalb des Judentums gab es viele Konflikte. Konflikte, deren Ursprung fast immer die Suche nach dem rechten Weg war. Und so war es an der Tagesordnung, dass die eine jüdische Gruppe der anderen die Wahrheit absprach. Auch die frühe christliche Gemeinde war Teil dieser innerjüdischen Konflikte. All das muss man wissen, wenn in den Evangelien von »den Juden« und wenn dort von Judas, »dem Verräter«, die Rede ist.
Das Johannesevangelium zeichnet das düstere Bild vom verschlagenen, hinterhältigen Judas. Und damit beginnt eine fürchterliche Wirkungsgeschichte. Eine Wirkungsgeschichte, die in letzter Konsequenz zum Judenhass der Nazis geführt hat. Das Motiv des Judas wurde dort zur Grundlage der Rede vom »ewigen Juden«, der alles Böse, alles Verschlagene in sich trägt. Diese fanatische, verblendete und menschenverachtende Sicht ist bis heute in vielen Köpfen verankert und hält die Welt immer noch in Atem, nimmt sie gefangen und sorgt für Angst und Terror.
Wir erleben es überall auf der Welt und auch mitten in unserem Land, dass immer mehr Menschen ohne Hemmungen auf die Straßen gehen und gegen »die Juden« protestieren. Es geht ihnen nicht um die in einer Demokratie gegebene Möglichkeit, gegen die Politik eines Staates zu demonstrieren. Nein, schlimmste, widerlichste Ressentiments gegen »die Juden« finden ihren Ausdruck: im Verbrennen der israelischen Flagge, im Angriff auf Synagogen und auf Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben. Es hört einfach nicht auf! Und daher bedarf es unser aller Solidarität! Es bedarf unseres Einsatzes gegen Antisemitismus und gegen alle undifferenzierte Sicht auf jüdische Menschen, die viele der Antisemiten als »Kinder des Judas« sehen, die ja nur Schlechtes in sich haben können. Was für ein irrer Glaube!
Natürlich darf man den Staat Israel für seine Politik kritisieren. Natürlich darf und muss man Mitleid haben mit den vielen Menschen in Palästina, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Auch dort geschieht Unrecht. Um all das geht es den Antisemiten aber gar nicht. Dieser blutige Konflikt wird seit Jahrzehnten und seit dem 7. Oktober 2023 wieder neu instrumentalisiert, um den Kampf gegen »die Juden« plausibel aussehen zu lassen. Deshalb sind und bleiben wir aufgerufen, unsere Stimme zu erheben, wenn gegen »die Juden« gehetzt wird. Als Christinnen und Christen haben wir diese Verantwortung. Und deswegen sagen wir: Bei uns ist kein Platz für Antisemitismus!
Es war Papst Johannes XXIII., der den entscheidenden Schritt der Umkehr gegangen ist. Das von ihm angestoßene Zweite Vatikanische Konzil hat 1965 nicht nur den unaufgekündigten Bund Gottes mit seinem Volk herausgestellt, sondern auch deutlich gemacht, dass weder das ganze damalige Volk noch heutige Juden für den Tod Jesu verantwortlich zu machen sind. Historisch sind die Zusammenhänge um den Tod Jesu auch viel komplexer. Nicht nur, dass die römischen Besatzer unter Pontius Pilatus den Nazarener ans Kreuz brachten, Jesus selbst ging seinen Weg konsequent bis zum Schluss. Er, der von Wahrheit und Liebe nicht nur redete, sondern sie lebte, stand bis zum Schluss für das ein, was er verkündet hatte. Und zwar in der Hoffnung, dass eine Liebe, die das eigene Leben zu geben bereit ist, ein für alle Mal jede trennende Grenze überwinden würde. Doch was ist daraus geworden?
Kurz vor seinem Tod im Jahr 1963 schrieb Papst Johannes ein Gebet, das sich – wissend um den Verrat der Kirche an ihrem Herrn – wie ein flehendes Vermächtnis anhört: »Wir sind uns heute bewusst, dass viele Jahrhunderte der Blindheit uns die Augen verhüllt haben, so dass sie die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr zu sehen und in ihren Gesichtern die Züge unserer erstgeborenen Brüder nicht mehr zu erkennen vermögen. Wir verstehen, dass uns ein Kainsmal auf die Stirn geschrieben steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blut gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen ‚Jude‘ hefteten. Vergib uns, dass wir Dich in ihrem Fleische zum zweiten Mal ans Kreuz schlugen. Denn wir wussten nicht, was wir taten.«
Heute kann niemand mehr sagen: »Wir wussten nicht, was wir taten.« Deshalb: Kein Platz für Antisemitismus. Nirgendwo!
Alexander Bergel
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Informationen zur Aktion »Kein Platz für …«
finden Sie hier.
Bild: Kain erschlägt seinen Bruder Abel
Friedbert Simon (Fotografie), Erich Schickling (künstlerischer Entwurf)
In: Pfarrbriefservice.de